Holocaust in der Ukraine

Ihor Shchupak

Holocaust auf dem Territorium der Ukraine im Laufe des Zweiten Weltkrieges

Es wird sehr kompliziert grundlegend neue Informationen darzustellen. Destotrotz möchte ich die Stellung der ukrainischen Historiker zu den damaligen Ereignissen im Kontext der europäischen Geschichtebeschreibung aufzeigen.

Wir müssen den Holocaust sowohl im Kontext der Bildung und Umsetzung der Nazi-Ideologie, als auch im Kontext anderer Völkermorde betrachten. Für die Ukraine ist die Analyse mit dem Vergleich zu Holodomor (Hungersnot) des ukrainischen Volkes 1932–1933, Deportation der Krimtataren 1944 relevant. Wenn wir über die von Raphael Lemkin entwickelte Definition des Völkermordes sprechen, sollte bemerkt werden, dass er den Völkermord an den Armeniern in der Türkei 1915 und 1950 beschrieben und diesen mit dem Holodomor des ukrainischen Volkes verglichen hatte. 

Es gibt verschiedene Periodisierungen des Holocaust, aber es ist offensichtlich, dass seine breiteste praktische Umsetzung nach dem Angriff Deutschlands auf die UdSSR im Jahr 1941 begann. Wenn wir jedoch über den Zweiten Weltkrieg sprechen, müssen wir über seinen Beginn ab dem Jahr 1939 sprechen, insbesondere betrifft es den postsowjetischen Raum. Die Situation mit den Juden veränderte sich stark nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September und dem sowjetischen Einmarsch in die westukrainischen Gebiete, die zu dem damaligen Zeitpunkt zu Polen gehörten. Die Augenzeugen dieser Ereignisse berichten von sehr seltsamen Bewegungen großer Menschenmassen, insbesondere von Juden. Tausende Juden versuchten sowohl aus den von Deutschen besetzten Gebieten in das Sowjetgebiet, als auch umgekehrt zu fliehen. Die Massenvernichtung von Juden durch die Deutschen begann nach dem Jahr 1941, davor waren die Juden unterdrückt und geplündert worden.

Die UdSSR ihrerseits führte Massenrepressionen in den besetzten Gebieten Polens durch. Wir erinnern uns an die Tragödie der Massenvernichtung polnischer oberer Schicht und polnischer Offiziere. Unter den von der UdSSR vernichteten Menschen befanden sich zweifellos Juden, Ukrainer und sogar Deutsche. Die polnische Elite wurde aktiv nach Sibirien in die Verbannung geschickt. Die meisten in der UdSSR unter Repressivmaßnahmen ausgesetzten Juden überlebten jedoch in solchen Gefängnisplätzen, während alle anderen Gebliebenen von der Nazi-Macht während des Holocausts vernichtet wurden.

Die Bedingungen des Holocausts in den von Deutschland besetzten ukrainischen Gebieten waren verschieden. Dies wurde durch die Vielfalt der Besatzungszonen verursacht. Das Territorium der Ukraine wurde in den Bezirk Galizien, der zum polnischen Generalgouverneur gehörte, in das Reichskommissariat Ukraine, Transnistrien und die Militärverwaltungszone aufgeteilt. Ein Teil der Ukraine wurde von rumänischen, der andere Teil von ungarischen Truppen kontrolliert.

Erschießungen als Mordmittel waren im Reichskommissariat und in der Militärverwaltung am weitesten verbreitet. Der französische Forscher Pater Patrick Dubois schlug solchen Begriff wie "Bullet Holocaust" vor, diese Form des Holocausts wurde auf dem Territorium des Reichskommissariats aktiv durchgeführt. Auch in der Region Transnistrien wurden Menschen erschossen, die meisten starben jedoch an Krankheiten, Hunger und schrecklichen Lebensbedingungen im Ghetto. Ghettos wurden im Gebiet Galiziens massenhaft geschaffen. Das Ghetto von Lemberg war das zweitgrößte nach dem Warschauer Ghetto. In Lemberg wurden Menschen auch erschossen, aber die meisten starben in den Vernichtungslagern. Alle sechs Vernichtungslager befanden sich in Polen (Auschwitz, Treblinka, Belzec, Sobibor, Kulmhof und Majdanek), obgleich keine solchen in den besetzten Gebieten der Ukraine gab. Anstatt dessen wurden hier Konzentrationslager mit entsetzlichen Lebensbedingungen eingerichtet. Dies waren Zwangsarbeiterlager.

Der Holocaust wurde auf dem Gebiet des Reichskommissariats Ukraine in Etappen eingeteilt. Vor kurzem gedachten die Ukraine und die Welt des achtzigsten Jahrestags der Tragödie in Babyn Jar. In Kyjiw gab es eine Annonce über die Versammlung von Juden an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Die Vernichtung der Juden in der Schlucht wurde von den deutschen Soldaten durchgeführt. Eine unterstützende Rolle spielte dabei die ukrainische Polizei, die nicht nur aus den Ukrainern, sondern auch aus den Russen, Belarussen und sogar Asiaten bestand. Sie nahm an den Pogromen teil, aber sie übte keine Judenvernichtungsfunktion aus. Für die Vernichtung der Juden in der Ukraine und in ganzem Europa sind nur die deutsche Regierung und Soldaten verantwortlich. Unter den sechs Millionen ausgerotteten Juden waren 1,5 Millionen ukrainische Juden. Fast jede Siedlung hatte ihr eigenes "Babyn Jar".

Für einen Holocaust-Forscher ist es sehr wichtig, das Prinzip festzulegen, nach dem diese Erscheinung betrachtet wird. Bei der Untersuchung von einem Völkermord ist es wichtig, nicht nur über Vernichtung zu sprechen, sondern auch über Widerstand und Erlösung von diesem Völkermond. Leider wurde den letzten beiden Aspekten in der Berichterstattung über Völkermord in populären Quellen sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wir müssen also über die Beteiligung von Juden am Holocaustwiderstand in den Reihen der Roten Armee, über die Beteiligung von Juden an der Partisanenbewegung sprechen. Ein markantes Beispiel für eine solche Bewegung war eine Partisanengruppe von Hunderten Menschen, die Tausende von jüdischen Frauen und Kindern rettete.

In Bezug auf nationale Bewegungen ist es zu betonen, dass Totalitarismus, Autoritarismus und Antisemitismus in den 1930er und 1940er Jahren aktiv an Popularität gewannen. In den späten 1930er und frühen 1940er Jahren war die ukrainische nationalistische Bewegung vollständig antisemitisch und unterstützte im Allgemeinen die Vernichtung von Juden. Es ist erwähnenswert, dass die antisemitische Bewegung nicht auf Religion, sondern auf dem Mythos über jüdischen Kommunismus, jüdische Kommune basierte. Die Politik gegenüber den Juden änderte sich aktiv zwischen 1942 und 1944. Letztendlich wurde entschieden, dass sich ukrainische Nationalisten nicht an antijüdischen Aktionen beteiligen und kein Spielzeug in den Händen der Anderen sein sollten. Aber als dies bekannt gegeben wurde, gab es keine Juden mehr in der Ukraine.

Es gibt auch Informationen, dass die Juden Mitglieder der UPA (Ukrainische Aufständische Armee) waren, hauptsächlich Mediziner und andere Mitarbeiter. Es gab einige Fälle, in denen die Juden zu Erkundern und Spionen wurden. Es gab sogar Kommandeure, die Juden retteten und als Gerechte unter den Völkern der Welt anerkannt wurden.

Es gab auch jüdische Aufstände in Ghettos und Konzentrationslagern. Der Kern der Ghettoaufstände war die jüdische Polizei, sowohl in Warschau als auch in anderen Ghettos. Der erfolgreichste Aufstand im Konzentrationslager war der Aufstand in Sobibor. Der Aufstandsanführer war Alexander Aronovich Pecherskyj – ein sowjetischer jüdischer Offizier. Während des Aufstands wurden 12 SS-Männer, 38 Wachmänner getötet und etwa 400 Häftlinge flohen aus dem Lager. Aber bis zum Ende des Krieges überlebten jedoch nicht mehr als 50 Häftlinge. Ein anderes Thema ist das Schicksal von Pecherskyj selbst, der nach seiner Rückkehr in die UdSSR unterdrückt und in das Strafbataillon geschickt wurde.

Die Ukraine steht am vierten Platz nach der Zahl der Gerechten unter den Völkern der Welt. Die Forschung zu diesem Thema begann weltweit praktisch unmittelbar nach dem Krieg und in der Ukraine erst nach 1991. Die erste auf der Liste der ukrainischen Gerechten unter den Völkern der Welt war Olena Viter, die Äbtissin des griechisch-katholischen Klosters des Studitenordens und Mitglied der Organisation ukrainischer Nationalisten. 1976 wurde sie als Gerechte unter den Völkern der Welt anerkannt. Obwohl sie offiziell Staatsbürgerin der UdSSR war, behauptete sie, ihre Heimat sei die Ukraine, weshalb sie als ukrainische Gerechte unter den Völkern in die Weltliste eingetragen wurde. Es gab auch andere Fälle von Judenrettung. Metropolit Andrej Scheptyzkyj rettete mehr als 150 Juden, aber er wird immer noch nicht als Gerechter unter den Völkern anerkannt. Bis 1991 wurden nur wenige Menschen in der Ukraine als Gerechte unter den Völkern geschätzt, aber nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit wurden Hunderte von Menschen zu Gerechten unter den Völkern ernannt. Am 14. Mai dieses Jahres ehrte die Ukraine zum ersten Mal auf staatlicher Ebene das Gedenken jener Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs ihr Leben riskierten, um Juden zu retten. Der entsprechende Beschluss zum Gedenken dieses Datums wurde Anfang des Jahres von dem ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, angenommen. Präsident Wolodymyr Selenskyj unterzeichnete das Edikt zur Gewährung staatlicher Stipendien an die Ukrainer, die während des Zweiten Weltkriegs Juden retteten.

Das ukrainische Institut für Holocaust-Studien „Tkuma“ und die Vereinigte Jüdische Gemeinde der Ukraine starteten in diesem Jahr das Projekt „Gerechte unter den Völkern. Die Ukraine". Seit 2018 führen das Ukrainische Institut für Holocaust-Studien „Tkuma“ und das Museum „Gedächtnis des jüdischen Volkes und Holocaust in der Ukraine“ (Dnipro) zusammen mit dem Nationalmuseum für ukrainische Geschichte im Zweiten Weltkrieg das Projekt „Portraits.UA“, das den ukrainischen Gerechten unter den Völkern gewidmet ist. Wir arbeiten sowohl im Bereich der wissenschaftlichen Forschung, als auch im Bereich Bildung und Gedenken. Mit der Unterstützung staatlicher Behörden gelang es uns, die Städte- und Dörferstraßen in dem Gebiet von Dnipropetrowsk, in denen es mindestens einen Gerechten gab, umzubenennen. Mittlerweile gibt es in dieser Stadt mehr Straßen der Gerechten als in allen europäischen Ländern zusammen.

Erwähnenswert sind noch die Quellen der Holocaust-Studie. Dokumente der Notkommission zur Untersuchung der Gräueltaten der Nazi-Invasoren, Strafakten der Nazi-Gerichte gegen Ukrainer und Polen im Bezirk Galizien, Gerichtsakten aus Lemberg und anderen Gerichten in der Westukraine sind die einzigen umfassenden dokumentarischen Beweise über die Vernichtung der Menschen wegen Rettung von Juden. Es gelang fast fünfzig solcher Fälle zu identifizieren. Über die Angeklagten ist nichts bekannt und keiner von ihnen wurde als Gerechter unter den Völkern der Welt anerkannt. Alle Akten sind einzigartig und können von 10 bis 300 Seiten umfassen. Sie alle veranschaulichen den Prozess der Vernichtung jüdischer Retter im Bezirk Galizien.

Eine gesonderte interessante Quelle bilden die Werke von Schulkindern. Nach der Befreiung der Ukraine von den Nazis wurden Schüler gebeten, schriftliche Arbeiten mit dem Titel "Wie ich während der deutschen Besatzung lebte" zu schreiben. Tausende solcher Werke mussten untersucht werden, um eine Erwähnung der Judenvernichtung zu finden. Es gibt Standardsätze aus den Werken wie: "...wir lebten sehr schlecht, wir waren glücklich, als die Rote Armee zurückkehrte ...", es gibt auch einzigartige Zeugnisse: "Ich sah Juden auf den Friedhof gehen, wo die Deutschen plünderten und stahlen" oder "mein Onkel wurde von den Deutschen erschossen, weil er Dokumente für seine jüdische Frau und andere Juden gefälscht hatte". Da die Kinder keine Gelegenheit zum Lernen hatten, gab es in ihren Aufschriften über den Mord an ihren Freunden und Verwandten viele Fehler, die die Lehrer korrigierten. Es wurden auch die schlechtesten Noten – „mangelhaft“ und „ungenügend“ – vergeben.

Eine unerschöpfliche Beweisquelle sind mündliche Überlieferungen. Das ukrainische Institut für Holocaust-Studien „Tkuma“ führte Expeditionen durch die Ukraine durch. Diese wurde wegen COVID-19 unterbrochen. Im Sommer konnten wir in der Region Odessa unsere Faktensammlung fortsetzen. An jener Expedition nahmen Menschen aus den USA, Litauen und natürlich aus der Ukraine teil. Unsere Zeugen sind zwischen 85 und 90 Jahre alt. Wir sprachen hauptsächlich mit den Kindern von Holocaust-Augenzeugen oder Augenzeugen, die zur Kriegszeit 5-10 Jahre alt waren.

Der Holocaust spiegelte auch andere Tragödien und andere Ereignisse wider. Ich habe einzigartiges Material über deutsche Kolonisten in der Ukraine gesammelt. Viele von ihnen wurden seit der Sowjetzeit unterdrückt, weil sie als Kulaken (d.h. wohlhabende Bauern) galten. Der Kollektivierungsprozess entwickelte sich am stärksten in deutschen und jüdischen Bauernhöfen. Sie wurden während des Holodomor sehr stark betroffen. Mein Großvater war aus einer jüdischen Kolchose und starb während des Holodomor 1932–33. Was die Volksdeutschen betrifft, so versuchte man diese, als die Nazis kamen, in das Unterdrückungssystem einzubinden. Sie wurden auch ohne Beteiligung deutscher Soldaten bei der Vernichtung und Hinrichtung von Juden und Roma eingesetzt. Beim Rückzug der Wehrmacht wurden die meisten von ihnen nach Deutschland gebracht. Sie waren bereits Menschen zweiter Klasse im Reich. Und als die Rote Armee kam, begannen Repressionen gegen sie, weil sie als ehemalige Kollaborateure galten. Diese soziale Gruppe war zuerst Opfer des Sowjetsystems, dann Henker des Nazisystems, dann Opfer des Nazisystems und schließlich wieder Opfer des Sowjetsystems. Dies ist ein Beispiel dafür, wie der Holocaust Bilder vieler historischer Phänomene sichtbar macht. Ich möchte Sie nach Dnipro einladen, wo sich das größte jüdische Museum der Holocaust-Forschung TKUMA befindet, das größte jüdische Zentrum der Welt befindet sich im Stadtzentrum. Wir führen Tagungen und Bildungsarbeit durch. Ich bin Autor von Lehrbüchern über die fundamentale Geschichte der Ukraine. Allein in diesem Jahr wurden 350.000 Exemplare für die 8. Klasse herausgegeben. Ich spreche darüber, weil das Erlernen der Geschichte von Holocaust für alle ukrainischen Schüler obligatorisch ist. Die Lehrbücher berichten sowohl von der Vernichtung, als auch von dem Widerstand und der Rettung.


Dieter Pohl 

Holocaust in der Ukraine

Der Holocaust in der Ukraine ist weit weniger bekannt als etwa jener in Polen oder in den westlichen Ländern. Lediglich Babi Jar, der Ort des Massakers an den Kiewer Juden, gilt hier als emblematischer Erinnerungsort, gelegentlich noch das Ghetto in Lemberg und das Lager an der Janowskastraße in der gleichen Stadt.  Erst in den letzten drei Jahrzehnten, vor allem nach der Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion, hat sich ein tiefer gehendes Wissen über die deutschen Verbrechen in der Ukraine entwickelt, sowohl in Deutschland als auch in der Ukraine selbst. Dennoch steht die historische Forschung, vielerorts auch die Erinnerung, bei vielen Themen und in vielen Regionen erst am Anfang. 

Holocaust in der Ukraine - das Thema ist gar nicht so leicht zu definieren, wie es auf den ersten Blick scheint. Existierte das Land doch im Zweiten Weltkrieg gar noch nicht; es gab lediglich die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, die jedoch fester Bestandteil der Sowjetunion war und deren Gebiet nicht mit jenem der heutigen Ukraine identisch ist. Etwa die Hälfte der Juden, die nach heutigem Verständnis dem Holocaust in der Ukraine zum Opfer fielen, lebte tatsächlich in den östlichen Teilen Polens, in Westwolhynien und Ostgalizien, welche 1944 endgültig an die Sowjetunion abgetreten werden mussten. Rumänien verlor die nördliche Bukowina an die Ukrainische SSR, die Tschechoslowakei die Karpato-Ukraine. Und schließlich gehörte die Krim bis 1954 zur Russischen Sowjetrepublik und wurde erst dann an die Ukraine übergeben. Dennoch ist es sinnvoll, vom Holocaust in der Ukraine in den heutigen Grenzen (incl. der Krim!) zu sprechen, wenn man auch berücksichtigen muss, dass dies zugleich zur Geschichte Polens, Rumäniens und der Tschechoslowakei gehört.

So kann man auch nicht schlichtweg von den ukrainischen Juden sprechen, sondern sieht sich mit einer Reihe unterschiedlicher Benennungen konfrontiert: Juden waren damals Staatsbürger der Sowjetunion, Polens usw., in der Sowjetunion als Nationalität bezeichnet, in Ostmitteleuropa hingegen nach ihrer Glaubenzugehörigkeit. Die deutschen Besatzer wiederum mit ihren rassistischen Anschauungen sahen alle Personen als jüdisch an, die jüdische Vorfahren hatten, einerlei ob sie selbst noch dem Judentum angehörten oder nicht.

Die Geschichte der Juden im Gebiet der heutigen Ukraine ist also die Geschichte der Juden in der Sowjetunion, in Teilen Polens, der Tschechoslowakei und Rumäniens. Das waren bei Kriegsbeginn 1939 etwa 2,5 Mio. Menschen, die in sehr unterschiedlichen Welten lebten. Die meisten von ihnen, etwa 1,5 Mio. lebten in der Ukrainischen SSR unter den Bedingungen der Sowjetunion. Das bedeutete einerseits eine weitgehende rechtliche und auch soziale Gleichberechtigung, andererseits eine Existenz in einer radikalen Diktatur. Die Gesellschaft der Sowjetukraine und damit auch die dortigen Juden durchlebten in den 1930ern verheerende Katastrophen und Wellen der Gewalt, 1929/30 die Zwangskollektivierung, die auch die wenigen jüdischen Bauern in der Südukraine betraf, dann 1932/33 die politisch veranlasste Hungerkatastrophe. Dieser fiel fast jeder zehnte Einwohner zum Opfer. Nach einer kurzen Beruhigung folgte dann 1937/38 der "Große Terror", eine stalinistische Kampagne des Massenmordes, die sich vor allem gegen Nationalitäten wie Polen und Deutsche, aber auch gegen andere Bevölkerungsgruppen richtete. Jüdische Kultureinrichtungen waren größtenteils schon um 1929/30 geschlossen worden, im Terror wurde dann jeder verfolgt, der als Zionist galt. Somit war die Gesellschaft der Sowjetunion schwer zerrüttet, als der Krieg begann.

Ungleich anders entwickelte sich die Lage in jenen Gebieten, die später zwangsweiese an die Sowjetukraine angeschlossen wurden. In Polen und Rumänien litten die jüdischen Minderheiten zwar unter Diskriminierung, etwa durch den Ausschluss von weiten Teilen des öffentlichen Dienstes. Sie hatten aber insgesamt ein viel freieres Leben, eigene Gemeindestrukturen, Kulturorganisationen und Parteien. Dennoch verschlechterte sich ihre Lage nicht nur durch die Weltwirtschaftskrise, sondern in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre auch durch einen zunehmend aggressiven Antisemitismus. Geschäftsboykotte und Gewaltaktionen von Antisemiten, besonders von faschistischen Gruppen häuften sich. Die antisemitische Presse blühte in beiden Ländern. 1937 war Rumänien das erste Land außerhalb NS-Deutschlands, das antisemitische Gesetze erließ. Deutlich anders gestaltete sich die Situation in der Karpato-Ukraine, die zur Tschechoslowakei gehörte. Hier bestand bis 1938 die letzte Demokratie in Ostmitteleuropa. Obwohl auch hier Antisemiten ihr Unwesen trieben, waren die Juden deutlich besser geschützt als anderswo. Dies sollte sich im Frühjahr 1939 ändern, als Hitler die Tschechoslowakei zerstörte und Ungarn die Region besetzte. Auch die ungarische Regierung betrieb schon zu dieser Zeit einen antisemitischen Kurs.

Alles änderte sich mit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und der zwangsweisen Annexion zunächst Ostpolens, 1940 dann auch der Nordbukowina durch Stalin. Nun fegten Wellen des Terrors durch diese annektierten Gebiete, von denen die jüdischen Minderheiten besonders betroffen waren. So deportierte die sowjetische Geheimpolizei 1940 fast 70.000 Juden aus Ostpolen, die aus dem Westteil des Landes vor Hitler geflüchtet waren. Gemeindestrukturen wurden zerstört, jüdische Unternehmer enteignet, echte oder angebliche Zionisten verhaftet und oft umgebracht. Anzumerken bleibt, dass die Karpato-Ukraine unter ungarischer Herrschaft verblieb. Als Hitler im März 1944 auch Ungarn besetzen ließ, deportierten ungarische und deutsche Stellen gemeinsam die dortigen Juden zur Ermordung nach Auschwitz.

Aus der Sicht der nationalsozialistischen deutschen Eliten gab es keine Besonderheit der ukrainischen Juden, sie galten als Teil der Ostjuden, der angeblichen "Brutstätte des Weltjudentums", und pauschal als Träger eines imaginierten "jüdisch-bolschewistischen" Systems. Als die Wehrmacht 1941 in der Ukraine einfiel, hatte die deutsche Besatzung bereits eineinhalb Jahre lang die Juden im Westteil Polens terrorisiert. Entrechtung, Enteignung und soziale Isolierung wurden hier viel schneller durchgesetzt als in Deutschland und Österreich vor dem Krieg. Erst im deutschen Krieg gegen Polen wurden erstmals Juden massenhaft ermordet, wie auch Angehörige der polnischen Intelligenzschichten und Patienten der Psychiatrie. Die deutsche Herrschaft richtete in Polen die ersten Ghettos für Juden ein, nicht nur zur Enteignung und Isolierung, sondern auch zur Ermordung der Juden. Bereits um die Jahreswende 1940/41 starben im Warschauer Ghetto Zehntausende Menschen an Hunger und Krankheit.

Und doch markiert der deutsche Angriff auf die Sowjetunion den Beginn des systematischen Massenmordes an den Juden, in der NS-Tarnsprache "Endlösung der Judenfrage". Zwar ist bis heute in der Geschichtswissenschaft umstritten, wann die endgültige Entscheidung zum Massenmord an allen Juden unter deutscher Hegemonie fiel, die Eskalation in diese Richtung fiel jedoch eindeutig mit dem Krieg gegen die Sowjetunion zusammen. Die SS und die deutsche Sicherheitspolizei stellten eigene Spezialverbände auf, die so genannten Einsatzgruppen, die wiederum von Polizeibataillonen der Ordnungspolizei unterstützt wurden. 

Die deutsche Vernichtungspolitik unterschied nicht zwischen der Ukraine und den anderen sowjetischen Gebieten. Sie richtete sich zunächst gegen jüdische Männer, die sozusagen als potenzieller Träger von Widerstand, vor allem aber als soziale Basis des sowjetischen Kommunismus angesehen wurden. Doch schon einige Wochen nach dem deutschen Angriff wurden auch Frauen und Kinder ermordet. Mit dem Einmarsch in Kiew im September 1941 begann dann die sofortige systematische Ermordung aller Juden, die in neu eroberten Gebieten angetroffen wurden; dafür steht Babi Jar. Diese allmähliche Radikalisierung der Morde hatte zur Folge, dass die meisten Juden im westlichen Teil der besetzten Ukraine um die Jahreswende 1941/42 noch lebten, also nicht von den mobilen SS- und Polizeieinheiten ermordet wurden. Im Laufe des Jahres 1942 wurden jedoch auch diese ermordet, nun von ortsfesten Stellen der Polizei. Ende 1942 waren die meisten Juden in der Ukraine nicht mehr am Leben. Lediglich in Ostgalizien, das der deutschen Besatzungsstruktur in Polen, dem Generalgouvernement angeschlossen worden war, dauerten die Mordaktionen bis Oktober 1943.

Die Hauptverantwortung für die Massenmorde trägt - neben der deutschen Staatsführung - die SS und Polizei, nicht nur Einsatzgruppen, sondern auch Polizeibataillone, Sicherheitspolizei und Gendarmerie auf dem Lande. Es waren jedoch alle Teile der deutschen Besatzungsapparate daran beteiligt, an erster Stelle Zivil- und Militärverwaltung. Diese trieben SS und Polizei regelrecht dazu an, die Juden in ihrem Bereich möglichst schnell zu ermorden. Auch die Sicherungsverbände der Wehrmacht und die Oberkommandos haben bereitwillig beim Morden mitgeholfen, vereinzelt auch Fronttruppen. Daneben sind auch noch andere Verwaltungsstrukturen zu nennen, Wirtschaftsverwaltung, Arbeitsämter, Reichsbahn bis hin zu deutschen Unternehmen, die in der Ukraine eingesetzt waren. Nur wenige deutsche Besatzer haben sich für das Leben der Juden eingesetzt.

Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass Rumänien, das als Verbündeter des Deutschen Reiches mit seinen Truppen ebenfalls in der Sowjetunion einmarschierte, seinen eigenen antijüdischen Vernichtungskrieg führte. Dieser begann noch Ende Juni 1941 in Rumänien selbst, mit dem Massaker an fast 14.000 Juden in und um die Stadt Jassy. Dann trieben rumänische Einheiten Zehntausende Juden ins deutsche Operationsgebiet, wo sie ermordet wurden. Schließlich massakrierten rumänische Militärs und Polizisten von Anfang an die jüdischen Gemeinden in ihrem Bereich, insbesondere im Großraum Odessa. Etwa 10% der jüdischen Opfer in der Ukraine gingen auf das Konto rumänischer Mörder.

Die Juden selbst waren denkbar schlecht auf den Vernichtungsfeldzug vorbereitet. Da Stalin mit Hitler 1939 gemeinsame Sache machte, wurden alle Informationen über die deutsche Judenverfolgung in der sowjetischen Presse unter den Tisch gekehrt. Auch gab es beim deutschen Angriff keine spezielle Evakuierungspolitik für die Juden. Die westliche Ukraine wurde ohnehin binnen einer Woche von der Wehrmacht überrannt, hier eröffneten sich kaum Möglichkeiten zur Flucht. Immerhin konnten aus den zentralen, südlichen und östlichen Teilen des Landes viele Menschen evakuiert werden, so dass die deutschen Eroberer insgesamt etwa zwei Drittel, also etwa 1,5 von 2,5 Mio. Juden antrafen.

Auch verfügten die Menschen jüdischer Nationalität in der Sowjetunion über wenig materielle und soziale Ressourcen. Größeres Privateigentum gab es in der Sowjetunion nicht, in den von Stalin annektierten Gebieten folgte die Enteignung meist 1940/41. Zum anderen waren die Juden nur recht begrenzt in der Gesellschaft integriert. Insbesondere in den Westgebieten war die kulturelle Kluft zwischen Juden und Christen traditionell groß. Sie verschärfte sich noch durch die sowjetische Besatzung seit 1939/40. Vielerorts wurden die Juden für die sowjetische Herrschaft verantwortlich gemacht, der Antisemitismus, der schon vor dem Krieg vorhanden war, steigerte sich 1940/41 in erheblichem Ausmaß. Doch auch die altsowjetischen Gebiete waren nicht frei von Judenfeindschaft. Einerseits hatte das sowjetische Regime die Abneigung gegen kapitalistische Schichten gefördert, andererseits sahen viele antikommunistisch eingestellte Einwohner Juden als Anhänger des Stalinismus. 

Unter deutscher Herrschaft war die Situation der jüdischen Gemeinschaft dann aussichtslos, sofort isoliert, öffentlich gekennzeichnet und mit einer Welle präzedenzloser Gewalt überzogen. Fluchtmöglichkeiten gab es nun kaum mehr. Zudem war die sowjetische Widerstandsbewegung in der Ukraine sehr schwach, es existierten kaum Waldgebiete als Infrastruktur. Als die deutschen Besatzer dann mit der endgültigen Zerstörung der Ghettos und der Ermordung ihrer Einwohner begannen, regte sich allerdings vor allem in der Westukraine der Widerstand, mancherorts in kleinen Ghettorevolten, und das lange vor dem Aufstand im Warschauer Ghetto.

Ein besonders heikles Kapitel ist das Verhalten der nichtjüdischen Gesellschaft, vor allem der Ukrainer, aber auch der Polen, Russen usw., die in der Ukraine lebten. Insbesondere in der Westukraine waren auch Einheimische an der Verfolgung und Beraubung, vereinzelt auch an der Ermordung beteiligt. Systematisch gilt das für die von den Deutschen eingerichtete ukrainische Hilfspolizei, die nahezu bei jeder Mordaktion beteiligt war. Aber auch die ukrainische Kommunalverwaltung hat an der Verfolgung mitgeholfen, etwa durch Volkszählungen, Auswahl der Ghettogelände, vor allem aber durch die Ausplünderung.

Der antikommunistische Widerstand gegen das Sowjetregime, die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), war 1941 weitgehend antisemitisch eingestellt. Zahlreiche ihrer Akteure waren an den Pogromen Ende Juni/Anfang Juli 1941 beteiligt. Vor allem aber gingen viele OUN-Mitglieder in die Hilfspolizei, die dann die Deutschen beim Massenmord unterstützte. Ebenso waren viele der Untergrundkämpfer der Ukrainischen Aufstandsarmee, die sich 1943 als militärischer Arm der OUN etablierte, ehemalige Hilfspolizisten, an deren Händen Blut klebte. 

Die Befreiung, die 1943/44 durch die Rote Armee kam, half nur noch wenigen Juden. Immerhin hatte sich die rumänische Regierung 1943 von ihrer Vernichtungspolitik abgewandt, so dass in Transnistrien ab da ein Überleben möglich war. Doch auch die Situation bei Kriegsende war deplorabel: die meisten Verwandten waren tot, viele Überlebende wurden mit offener Feindseligkeit aufgenommen, als sie in ihre Heimat zurückkehrten und ihr geraubtes Eigentum wieder einforderten. Für eine kurze Zeit war es in den 1940er Jahren möglich, des Holocaust zu gedenken. Dann erstickte der stalinistische Staat die Kriegserinnerung insgesamt. Als Opfer galten nicht mehr Juden, sondern "friedliche Sowjetbürgern", wie auf den seit den 1960er Jahren errichteten Denkmälern nachzulesen ist. Viele Juden verließen seit 1971 die Sowjetunion. 

Erst mit Gorbatschows Reformpolitik war allmählich wieder eine öffentliches Erinnerung an den Holocaust möglich, vor allem dann in der unabhängigen Ukraine. Hier sind viele Initiativen zu nennen. Freilich kollidiert dies im letzten Jahrzehnt zunehmend mit einer anderen, nationalistischen Erinnerungserzählung. Insbesondere in den letzten Jahren rückt die OUN immer mehr ins Zentrum dieser staatlichen Erinnerungspolitik. Während es nur wenige, zum Teil eher versteckt gelegene Denkmäler für den Massenmord gibt, hat sich vor allem in der Westukraine ein OUN-Kult breitgemacht. Nicht selten wird dabei auch OUN-Mitgliedern gedacht, die an Massenmorden beteiligt waren, mancherorts steht auf dem ehemaligen Gelände eines Ghettos heute ein Denkmal für die OUN oder die UPA. Diese unkritische Betrachtung der Vergangenheit ist sicher typisch für jene Staaten, die ihre Nation erst einrichten müssen. Doch gilt es, in der Zukunft auch angemessen der Hauptopfer der deutschen Besatzung zu gedenken und auch von staatlicher Seite kritisch mit der eigenen Geschichte umzugehen.